Wozu brauchen wir noch freies Radio, wenn es auch ohne Anstrengung immer und überall was zu hören gibt?

Mainstream, Popkultur, Meinungsmache, Sensationsgeilheit. - Wenn Sie heute eine Person aus einem industrialisierten, europäischen Land für 36 Stunden in einen absolut geräuschfreien Raum setzen, wird sie wahnsinnig. Schlicht und ergreifend wahnsinnig, im Sinne von Wahnvorstellungen, Alpträumen, Angstzuständen und hysterischen Anfällen... Von Anna Holzer

Wenn Sie heute eine Person aus einem industrialisierten, europäischen Land vor die Wahl stellen, ob sie lieber landestypische Musik aus dem nahen Osten oder die neueste Top Ten Chart Platzierung hören möchte, wird sie sich mit beinahe 75-prozentiger Wahrscheinlichkeit für letzteres entscheiden.

Und wenn Sie heute einer Person aus einem industrialisierten, europäischen Land mit einem Radioprogramm ohne Charts, Telefonspiele und Werbung konfrontieren, schaltet sie mit ebenfalls 75-prozentiger Wahrscheinlichkeit aus bzw. um.

Schuld daran sind, wie sollte es anders sein, öffentlich rechtliche und auch private Sender, die denken, dass Anpassung im Sinne von Werbung und Mainstream das Um und Auf ist, Musiker, die keine mehr sind, und Plattenfirmen, die sich selbst durch undurchschaubare juristische Paragraphen und hingebungsvoll geplante Millionen-Geschäfte mehr bereichern, als es ihnen unter anderen Umständen jemals möglich wäre.
Doch wenn wir nun einmal von diesen gängigen Beschuldigungen absehen, finden wir vielleicht Zeit, uns zwischendurch mit den Zuhörern und Zielgruppen selbst zu beschäftigen.

„Also, ich hör mir diese neuen Lieder gar nicht an. Wenn schon, dann läuft das so nebenbei im Auto oder im Büro!“ Und genau dieses „Nebenbei“ soll werbegebundene und meinungsbildende Sender zur Nummer 1 in Österreich machen?

„Mit dieser neuen Form von Musik kann ich wenig anfangen, aber die Moderatoren sind ganz nett und die Nachrichten machen die ja auch so interessant, aber zu lange darf’s nicht dauern. Wenn sie zu lange reden, hört ja eh keiner mehr zu“. Und diese Nachrichten, die sich zu 90 Prozent mit Sex, Affären und Politikskandalen beschäftigen, erlauben es freien Radiosendern nicht, sich zu etablieren und eine ähnlich hohe Einschaltquote wie ihre Konkurrenten zu erreichen? Nicht, dass es jetzt genau Sie sind, der diese Worte in den Mund nimmt. Diese Aussagen stammen von der ungebildeten, einfältigen und anspruchslosen Minderheit unserer Gesellschaft. Einer Randgruppe, die in Österreich mehr als 3 Millionen Menschen umfasst……aber das sind eh „die Anderen“, keine Angst!

Wir bekommen immer und überall was auf die Ohren. Im Bus, beim Friseur, im Restaurant, sogar auf öffentlichen Toiletten und in den „Ruheräumen“ der Wellnesstempel. Und wenn einmal nichts im Hintergrund dahinplätschert, fühlen wir uns unbehaglich, unruhig und irgendetwas scheint zu fehlen, nur leider können wir meistens nicht einmal sagen, was es ist: Unterhaltung! Allerdings darf es nicht zu viel Information auf einmal sein, denn dann müssten wir anfangen, zuzuhören.
Und dieses „Immer und Überall“ gibt uns das Gefühl des „Entertainments“, der „multicultural experience“ und der „globalisation“. Wie schön, wenn wir, ohne eine eigene Meinung zu haben, Zugang zu allen Informationen haben und diese auch noch so ganz nebenbei bekommen. Wie praktisch, dass nicht mehr ein Konzertbesuch die Voraussetzung für kulturelle Bildung ist, sondern dass wir uns auch als interessierte und allgemein gebildete Menschen bezeichnen dürfen, wenn wir wissen, dass der Startenor und die Sopranistin nach dem Konzert noch heimlich essen waren und dann gemeinsam in einem Haus verschwunden sind. Was die beiden eigentlich gesungen haben und wer das geschrieben hat, sind Details am Rande, die wir, falls wir sie zufälligerweise mal brauchen, auch googlen können.
Wir wissen auch, dass sich im Irak einer in die Luft gesprengt hat, aber wo genau das jetzt eigentlich liegt, warum der das getan hat und wie die anderen, ach wie viele waren es doch gleich, Menschen dort leben, das ist uns eigentlich relativ egal, bis…..tja, bis uns vielleicht der nette und sympathische Radiomoderator, mit der sexy rauchigen Stimme im verzweifelten Versuch seinen, in seinen Augen, zu seiner Pflicht gehörenden Bildungsauftrag zu erfüllen, zwischen der dritten Coverversion des Beatles-Klassikers und den Modetrends der kommenden Saison mit der Nase darauf stoßen lässt.

Party, Gesprächsstoff und bloß keine Anstrengung, das erwarten wir von Medien, wobei gerechterweise erwähnt werden muss, dass das Radio als Medium dem Fernsehen in dieser Hinsicht immer noch ein wenig nachsteht, die Frage ist nur, wie lange noch.

Und wenn Sie jetzt denken: „Naja, ganz netter Aufsatz, aber leider doch sehr stark am Thema vorbei und das bei einem selbst gewählten Thema, zumindest ein Wort bezüglich Radio FRO hätte schon drinnen sein können und abgesehen davon betrifft mich das ja eh nicht!“ …….

….tja, dann lassen Sie sich in Zukunft wohl auch besser wo anders unterhalten und wenden sich an die sexy Stimme aus dem Radio. Die wird Ihnen sicher das sagen, was Sie hören wollen!

Anna Holzer, Wels

Zuletzt geändert am 06.07.08, 00:00 Uhr

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