Vom Wert der Utopienbeschneidung

Wie doch die Zeit vergeht. Vor einiger Zeit wurde ich gebeten, eine von drei Eröffnungsreden zum Start von Radio-FRO zu schreiben. Und nun ging ein Ersuchen an mich, doch zu 10 Jahre FRO einige Worte aufs Papier zu bringen bzw. in den Computer zu hacken... Von Andi Wahl

Vage erinnere ich mich, vor nun gut 10 Jahren Radio FRO – wie im Übrigen den Großteil der Freien Kulturszene – als „Einrichtung zur Verwertbarmachung schwieriger junger Leute“ bezeichnet zu haben. In den Einrichtungen der Freien Szene würden, so meine damalige Grundthese, potenziell widerständigen Individuen Grundbegriffe der Betriebswirtschaft, des Marketings und des guten Benehmens beigebracht. So würden – in einer Art Nachschulung im geschützten Bereich – Menschen für die Marktwirtschaft zugerichtet (sprich „fit“ gemacht).
Dass ich damals den amtierenden Geschäftsführer als Beispiel eines Menschen anführte, der bereits in der Vorbereitungsphase zum FRO-Programmstart von einem rotzfrechen Lümmel zu einem durchaus herzeigbaren Subventionsverhandler/Bittsteller mutierte, hat sein Verhältnis zu mir leider dauerhaft getrübt. (Meinem Grundsatz, lieber einen guten Freund zu verlieren, als einen guten Witz nicht gemacht zu haben, bin ich im Übrigen bis heute treu geblieben.)

Ich will Sie jetzt nicht mit einer Analyse quälen, ob sich meine Weissagungen nun bewahrheitet haben oder nicht. Es ist, um es kurz zu machen, so, wie es sich mit Weissagungen generell verhält. Manches tritt ein, manches nur zur Hälfte und vieles kommt viel schlimmer, als man dachte. Dass die Entwicklung der ArbeitnehmerInnenrechte in der Freien Szene noch immer in einem vorgewerkschaftlichen Zeitalter festzustecken scheint, ist evident und FRO bildet da keine Ausnahme.

Aber ich möchte diesmal Ihre Aufmerksamkeit gar nicht so sehr auf die Organisation FRO, in ihrem engeren Sinn, lenken, sondern auf das, was wir von Radio FRO über unsere eigenen Utopien lernen können. Denn Freie Radios sind im Prinzip etwas unglaublich Großartiges! Durch sie wird die Trennung zwischen Sender und Empfänger aufgehoben (wie es schon Bertolt Brecht forderte). Freie Radios vergesellschaften die Produktionsmittel. Und nicht irgendwelche Produktionsmittel, sondern zentrale Produktionsmittel. Denn in Medien wird „Wirklichkeit“ – oder das, was wir für die Wirklichkeit halten – produziert. In Freien Radios werden eigene ästhetische Formen entwickelt, sodass wir uns nicht mehr dem ästhetischen Diktat der Kulturindustrie aussetzen müssen. Kurz: Freie Radios lassen Utopien zur Realität gerinnen. In ihnen macht das Volk das, was das Volk macht, wenn man das Volk machen lässt, was das Volk machen will. Je nach eigener ideologischer Verfasstheit können Freie Radios etwa ein Stück Anarchie inmitten eines repressiven Staates sein oder ein Stück Sozialismus mitten im Kapitalismus; auch ein Stück Himmelreich inmitten des irdischen Jammertals, oder eine Insel der Zivilgesellschaft im tosenden Ozean unserer selbst gewählten und selbst verschuldeten Unmündigkeit.

Soweit der utopische Gehalt Freier Radios. Drehen wir aber unser Radio auf und suchen uns die Frequenz eines Freien Senders, so beginnen all diese Utopien ein wenig schal zu schmecken. Denn was uns da aus den Lautsprechern akustisch entgegentritt, ist sehr durchwachsen. „G’scheites und Blödes“, wie es bei Karl Farkas und Ernst Waldbrunn schon hieß. Großartige Sendungen und aberwitziger Topfen. Wunderbare Stimmen und sprachbehinderte ModeratorInnen.
FRO und alle anderen Freien Radios sind – und das liebe ich so an ihnen – der Realitätscheck für unsere Utopien. Wenn wir aufmerksam in sie hinein hören, können wir erahnen, was ein „befreites Volk“ so treiben würde. Es ist natürlich auch darauf zu achten, wen oder was wir nicht hören. Wo sind die Kernschichten des Proletariats, die Intelligenzija, die Stimme der Kunst oder der Vernunft? Freie Medien sorgen dafür, dass Utopien nicht ins Kraut schießen, weil sie uns stetig vor Augen halten, mit wem wir gegebenenfalls unsere Utopien zu verwirklichen haben. So stutzen Freie Medien unsere Utopien immer wieder zurecht und sorgen so für eine „realitätsnahe Utopienentwicklung“. Utopien, die im täglichen Leben auch zu brauchen sind und die nicht beim ersten Sturm in sich zusammenknicken. Utopien mit menschlichem Antlitz, wenn Sie so wollen. Und diese zu spinnen und zu wirken bieten Freie Radios vielerlei Anlässe.

Doch Utopien und Ideologien – und das möchte ich Ihnen, wenn Sie erlauben, noch schnell in Ihr Stammbuch malen – die zu ihrer Verwirklichung den „Neuen Menschen“ brauchen oder diesen in einer „Übergangsphase“ zu produzieren trachten, sollten Sie am besten nicht über den Weg trauen.

 

Zuletzt geändert am 06.07.08, 00:00 Uhr

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