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„Es ist eine Schande, wie mit Menschen umgegangen wird!“

Interview mit Karin Kaufman // Es gärt im oberösterreichischen Sozialbereich. Viele Menschen, denen nach dem Chancengleichheitsgesetz Hilfeleistungen zustehen, werden mit dem lapidaren Verweis auf fehlende Finanzmittel abgewimmelt. Nun haben sich Organisationen zu einer „Allianz zur Chancengleichheit für Menschen mit Beeinträchtigung“ zusammengeschlossen. Ziel ist es, das Land Oberösterreich dazu zu bringen, das 2008 beschlossene Gesetz auch umfassend anzuwenden.

Als Sprecher*innen vertreten diese Allianz Alf Prandl (Vereinigung der Interessensvertretungen der Menschen mit Beeinträchtigung), Hermann Wögerer (Verein Miteinander), Franz Weiß (Lebenshilfe) und Karin Kaufmann (Inklusa). Andi Wahl sprach mit Karin Kaufmann über die Lage von Menschen mit Beeinträchtigungen, die Unzufriedenheit mit dem Land Oberösterreich und die Schlitzohrigkeit der Gesetzgebung.

FRO: Frau Kaufmann, Sie sind eine der Repräsentant*innen der „Allianz zur Chancengleichheit für Menschen mit Beeinträchtigung“. Was beabsichtigt dieser Zusammenschluss von bisher 42 Organisationen und Interessenvertretungen?

Kaufmann: Im Behindertenbereich liegt vieles im Argen. Der Grund sich zur Allianz zusammenzuschließen ist die extrem lange Warteliste, auf der jene Menschen stehen, die auf eine Leistung nach dem Oberösterreichischen Chancengleichheitsgesetz warten.
Über 5000 Menschen mit Beeinträchtigung haben noch nie eine Leistung bekommen und warten seit Jahren auf eine Unterstützung, um ihr Leben leben zu können. Das ist ein unhaltbarer Zustand, der auch den Menschenrechten und allen Gesetzen widerspricht, die es in diesem Bereich gibt. Eine weitere Motivation war es, Solidarität mit jenen zu zeigen, die im Dunkeln stehen. Nachdem viele Menschen mit Beeinträchtigungen keine Leistungen erhalten, sind sie „nur“ eine statistische Zahl und den Organisationen persönlich nicht bekannt.

FRO: Das 2008 in Kraft getretene Oö. Chancengleichheitsgesetz ist durchaus ambitioniert. Es gibt dazu auf der Website des Landes sogar eine dicke Broschüre in „Einfacher Sprache“. Ein Indiz, dass das Land Oberösterreich möchte, dass der Inhalt dieses Gesetzes möglichst alle erreicht. Der Wille des Landes scheint durchaus gegeben. Es scheint „nur“ an der Finanzierung zu scheitern.

Kaufmann: Ja, das Gesetz wurde zwar beschlossen, die finanziellen Mittel zu seiner Umsetzung werden aber nicht zur Verfügung gestellt. Es ist ein ambitioniertes Gesetz – das stimmt. Die Menschen, die bereits Leistungen beziehen, werden in der Regel auch relativ gut bedient. Jene aber, die bisher keine Leistungen bekommen, stehen draußen und haben keine Chance, in absehbarer Zeit ins System integriert zu werden. Die werden fallen gelassen und müssen selbst sehen, wie sie über die Runden kommen. Hier müssen meist Familienangehörige kompensieren, was die öffentliche Hand – trotz eindeutiger Gesetzeslage – den Menschen vorenthält. Viele Helfer*innen sind aber am Rand ihrer Leistungsfähigkeit.

FRO: Verstehe ich Sie richtig, dass es hier eine Zweiteilung gibt? Es gibt Menschen mit Beeinträchtigung, die sind im System und werden vom System auch weiter bedient und es gibt Menschen, die nicht ins System aufgenommen werden und in absehbarer Zeit auch keine Aussicht haben, Unterstützung zu erhalten.
Kaufmann: Ganz richtig. Seit vier Jahren gibt es de facto einen Aufnahmestopp und die Liste der Wartenden wird immer länger. Das Problem ist, dass zwar ein Rechtsanspruch auf entsprechende Leistungen besteht, aber nur, wenn man bereits vom System erfasst wurde. Wenn man noch keine Leistungen bezieht, hat man derzeit auch keine Aussicht welche zu bekommen, auch wenn man sie dringend benötigt. Der Grundstein dafür wurde bereits bei der Beschlussfassung des Gesetzes gelegt. Dort heißt es, dass Leistungen nur „nach Maßgabe der budgetären Mittel“ bewilligt werden.

FRO: Das heißt, wenn ich nach diesem Interview auf die Straße gehe, überfahren werde und meine Verletzungen so weitreichend sind, dass ich auch nach dem Krankenhaus Unterstützung brauche, dann werde ich diese Unterstützungen nicht bekommen. Auch wenn mir diese gesetzlich zustehen.

Kaufmann: Im Grunde ja. Willkommen auf der Warteliste, Sie haben die Nummer 6031. Wahrscheinlich werden Sie nach dem Krankenhausaufenthalt noch auf Rehabilitation geschickt. Im Anschluss daran bekommen Sie keine Unterstützungen zur Bewältigung Ihres täglichen Lebens mehr.

FRO: Es scheint einige neuralgische Punkte im Leben beeinträchtigter Menschen zu geben. Das ist einmal, wenn sie aus der Schule kommen und ihr Erwerbsleben beginnen sollten. Danach, wenn es darum geht, von Zuhause auszuziehen. Und der dritte, wenn die Leistungsfähigkeit der pflegenden Eltern nachlässt. An diesen drei Punkten besteht immer die Gefahr, aus der Gesellschaft zu fallen.

Kaufmann: Korrekt. Das hat oftmals sehr tragische Auswirkungen. Es gibt Menschen, die bis zum Schulabschluss gute Bedingungen haben und viel lernen. Danach werden sie aber im Regen stehen gelassen. Dann sitzen sie zu Hause, verlernen viele der erworbenen Fähigkeiten, verlieren Sozialkontakte und driften immer weiter aus der Gesellschaft heraus. Werden also immer schwerer vermittelbar. Hier reißt oftmals der Faden eines qualitativen Lebens. Das Fehlen entsprechender Wohnmöglichkeiten hindert die Menschen auch oft daran, ein Erwachsenenleben zu führen. Sie bleiben länger in einer Art „Kind-Position“, als es ihnen und den Eltern gut tut.

FRO: Zu einer Podiumsdiskussion mit Landeshauptmann Pühringer und Soziallandesrätin Jahn sind über 700 Menschen gekommen. Die Stellungnahme des Landeshauptmannes Pühringer war in etwa: Derzeit ist kein Geld da, um die Warteliste kürzer zu machen. Aber wir erwarten für 2016 einen Wirtschaftsaufschwung. Sollte dieser mehr Geld ins Budget bringen, werden auch Ihre Ansprüche Berücksichtigung finden.

Kaufmann: Es war sehr ärgerlich! Aber im Nachhinein betrachtet war es nicht anders zu erwarten. Wir wussten, dass es derzeit keine zusätzlichen Geldmittel für diesen Bereich gibt. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir müssen diesen Missstand trotzdem aufzeigen! Persönlich hat mich auch geärgert, dass gesagt wurde, dass Oberösterreich im Vergleich zu den andern Bundesländern ohnehin sehr viele Leistungen anbietet. Wie bitte geht es den Menschen mit Beeinträchtigung in den anderen Bundesländern, wenn sich Oberösterreich damit brüstet, so viel zu tun, aber tausende Menschen mit Beeinträchtigung bei ihrer alltäglichen Lebensbewältigung in Stich gelassen werden?
FRO: Fühlen Sie sich an der Nase herumgeführt, wenn im Chancengleichheitsgesetz zwar weitreichende Rechte definiert, die notwendigen Geldmittel dafür aber nicht bereitgestellt werden?

Kaufmann: Wir haben uns natürlich rechtlich erkundigt. Das Gesetz scheint wasserdicht zu sein. Es ist aber im Kern keine rechtliche, sondern eine politische Frage. Wie verteile ich die vorhandenen Finanzmittel? Hier ist die Politik gefordert, Prioritäten zu setzen und klar zu bekennen, was sie für wichtig und weniger wichtig hält.

FRO: Immer wieder wird davor gewarnt, dass die gegenwärtige Finanzkrise auch dazu benutzt wird, den Sozialbereich zurückzustutzen. Sehen Sie hier die Menschen mit Beeinträchtigungen in Oberösterreich als Opfer dieser Politik?

Kaufmann: Das kann ich nicht beurteilen. Aber ich höre immer, dass Österreich eines der reichsten Länder ist. Wenn das stimmt, dann ist es nicht akzeptabel, das Menschen mit Beeinträchtigungen nicht die Unterstützungen bekommen, die ihnen dem Gesetz nach zustehen. Das ist auch ein Verstoß gegen die UN-Behindertenkonvention, die Österreich 2008 ratifiziert hat. Wie kann ich Gesetze machen oder Konventionen ratifizieren, mich dann aber nicht um die Umsetzung scheren? Hier muss sich der Gesetzgeber selbst ernst nehmen und darf nicht Gesetze verabschieden, bei denen er sich gleich ein Hintertürchen mit hineinschreibt. Gibt es den politischen Willen oder gibt es ihn nicht?

FRO: Das Anbieten von Unterstützungsmaßnahmen ist auch ein Markt. Organisationen, die sich zu dieser Allianz zusammengeschlossen haben, stehen sich auf diesem Markt als Konkurrent*
innen gegenüber. Wirkt das auf die Arbeit der Allianz?

Kaufmann: Wir haben die Konkurrenz einmal hintangestellt. Wir haben auch einen Kodex unterschrieben, der beispielsweise beinhaltet, dass wir die Arbeit für die Allianz nicht zur Eigenwerbung nutzen. Es geht um die Menschen mit Beeinträchtigungen, die vom Land auf ein Abstellgleis geschoben wurden und derzeit keine Chancen auf konkrete Hilfeleistungen haben. Vor allem geht es um die Bereiche Wohnen, Arbeit, mobile Dienste und Persönliche Assistenz. Hier wird der bestehende Bedarf teilweise nicht einmal zu 50 % gedeckt.
Es ist ja nett, wenn der Landeshauptmann sich dafür einsetzen will, dass im Zuge des Finanzausgleichs mehr Geld vom Bund an die Länder kommt. Aber ich möchte gerne wissen, was er an konkreten Sofortmaßnahmen anbieten kann. Die Menschen, die Hilfe brauchen, müssen heute zum Arzt, müssen heute aufs Klo und brauchen heute Unterstützung. Es gibt Eltern um die siebzig, die sich ein Leben lang um ihr heute vielleicht fünfzigjähriges Kind gekümmert haben. Die machen sich einfach Sorgen, wer sich um ihr Kind kümmert, wenn sie die Pflege nicht mehr selbst leisten können.

// Mag.a Karin Kaufmann ist Psychologin und lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Urfahr. Die Obfrau des Vereins Inklusa ist selbst beeinträchtigt und tritt für eine chancengleiche Teilhabe aller am gesellschaftlichen Leben ein.

Andi Wahl ist Geschäftsführer von Radio FRO und koordiniert die Redaktion von Radiabled, einem Redaktionskollektiv von Menschen mit und ohne Behinderungen.

Zuletzt geändert am 24.11.14, 00:00 Uhr

Verfasst von Silke Müller

Ein Duett aus Radiofeature-Produktion und Illustrationsausstellung hat mein Kommunikationsdesign und Medienstudium abgeschlossen. Seit dem beschäftige ich mich mit der großen, künstlerischen Radioform "Feature", mit Reportagen und Interviews mit KünstlerInnen und Kulturschaffenden.

Ich bin freischaftende Illustratorin für Plakate - zum Beispiel für Radio FRO - Zeitungen, Magazine, Bücher und Ausstellungen. Radiohören geht beim Zeichnen wunderbar.

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