Es gibt keinen Grund zum Jubeln

Im Dezember 1994 schlossen sich in Linz Menschen zusammen um nach dem Vorbild der internationalen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung (SLI) ihre Anliegen selbst zu vertreten und ExpertInnen in eigener Sache zu von Sabine Pfeiffer und Klaudia Karoliny //
Behinderten überlassen sondern selbst die Stimme erheben. Seit 1998 sind sie als Verein organisiert. Und da nicht nur in Linz (noch) vieles im Argen liegt, sondern im ganzen Land, haben sie sich 2006 in SLI OÖ umbenannt. Wir haben sie gebeten uns einen Eindruck über ihre Arbeit und die dahinter liegende Philosophie zu vermitteln.

„Nichts über uns ohne uns!“ Gemäß diesem Motto schloss sich Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Grüppchen engagierter Menschen mit körperlicher Behinderung zusammen und setzte sich für die eigenen Belange und die ihrer KollegInnen ein. Allzu viel passierte ihrer Meinung nach ohne die Mitwirkung und das Einbeziehen von Menschen, die es selbst betrifft und die Bedingungen veränderten sich für sie nur allzu langsam. Streckenweise bewegte sich der „Zug“ sogar rückwärts, fanden die Betroffenen. Sie gingen dabei von dem Menschenbild aus, dass alle Menschen mit und ohne Behinderung das Recht auf Selbstbestimmung, Chancengleichheit, Gleichberechtigung und die volle Teilhabe in allen Bereichen des Lebens haben sollen.

Selbstbestimmt zu leben bedeutet dabei so viel wie

  • frei von Zwängen und Bevormundung sein eigenes Leben zu gestalten;
  • Wahlmöglichkeiten zu haben zwischen verschiedenen, akzeptablen Alternativen;
  • Entscheidungen treffen zu können, ohne dabei in Abhängigkeiten zu geraten;
  • die eigenen Anliegen selbst zu vertreten;
  • auch Fehler machen zu dürfen.

Behinderung wird nicht als Schicksal oder medizinisches Problem betrachtet, sondern als eine Frage des Bewusstseins gesehen. Behinderung entsteht nicht in erster Linie durch das Vorhandensein einer Beeinträchtigung, sondern durch Unverständnis, Vorurteile, Benachteiligungen und Barrieren. Barrieren durch fehlende bauliche Anpassungen oder sonstige Hindernisse, Barrieren aber auch in den Köpfen der Menschen. Behindert ist, wer behindert wird! Die Mitglieder der Selbstbestimmt-Leben Initiative Oberösterreich (SLI OÖ), verstehen sich als „ExpertInnen in eigener Sache“ und wollen die Politik nicht länger nur nichtbehinderten Menschen überlassen. Seite an Seite äußern sie sich laut & lästig zu brennenden Themen und ziehen dabei an einem Strang.Sie erheben die Stimme und mischen sich aktiv in das politische Leben ein, vertreten ihre Meinungen selbst und treten gegen Benachteiligungen und Diskriminierungen auf. Ihr Ziel ist es, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft zu verbessern.

So hat die SLI OÖ beispielsweise durch ihre kontinuierliche Zusammenarbeit mit den Linz Linien die Mobilität in Linz
(und Umgebung) sichtbar mitgeprägt. Flächendeckend fahren nun Niederflurfahrzeuge mit ausklappbaren Rampen, sodass auch RollstuhlfahrerInnen nicht mehr generell vom öffentlichen Nahverkehr ausgeschlossen sind. Aber auch im Baubereich hat der Verein gerade in den letzten Jahren viele Aktivitäten gesetzt. Letztendlich macht aber die Politik die Gesetze und entscheidet, wie viel Geld für den öffentlichen Wohnbau locker gemacht wird. Oberösterreich braucht sich nicht zu rühmen. Unser Bundesland ist kurzsichtig und spart bei der Barrierefreiheit. Es missachtet dadurch Menschenrechte wie beispielsweise die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die die volle Teilhabe am Leben für Menschen mit Behinderung vorsieht!

Teil einer weltweiten Bewegung

Der Verein SLI OÖ hat seinen Sitz in Linz. Er ist gemeinnützig und parteipolitisch unabhängig. Seine Aktivitäten erstrecken sich über das gesamte Bundesgebiet, schwerpunktmäßig treibt er jedoch in Oberösterreich sein „Unwesen“. Die SLI OÖ ist Teil der weltweiten Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und orientiert sich an ihren Werten. Das bedeutet beispielsweise, Vorurteile gegenüber Personen mit anderen Formen der Behinderung, die nicht die eigenen sind, abzubauen. Die Verschiedenheit wird als Chance gesehen voneinander zu lernen und Ziele gemeinsam besser und leichter umsetzen zu können. Die SLI OÖ zeichnet aus, dass sie über den eigenen Tellerrand von Behinderung hinausschaut und sich hier Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen und chronischen Erkrankungen nicht auseinander dividieren lassen. Auch Menschen ohne Behinderung, die sich in der Selbstbestimmt-Leben-Ideologie wiederfinden und sich mit Menschen mit Behinderung solidarisch fühlen, sind bei SLI OÖ willkommen.
Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung blickt auf eine über 30-jährige Geschichte zurück, die ihre Ursprünge in der „Independent Living Bewegung behinderter Menschen“ findet, die mittlerweile weltweit verbreitet ist und ihre Anfänge und stärkste Akzeptanz in den USA findet. Der zusehends um sich greifende Paradigmenwechsel in der Behindertenarbeit und -politik weg von der entmündigenden, aussondernden und oftmals diskriminierenden „Fürsorge“ für Behinderte, hin zur Ermächtigung zum eigenverantwortlichen Management der eigenen Angelegenheiten und zur Einforderung der Bürgerrechte von Menschen mit Behinderung schreitet stetig voran und ist sowohl erklärtes Ziel, als auch einer der größten Erfolge dieser Bewegung.

Anfänge in den USADas Jahr 1962 wird in den meisten Publikationen zum Thema Independent Living behinderter Menschen als ein Schlüsseljahr der US amerikanischen Independent Living Bewegung bezeichnet. Damals erkannten viele behinderte US-BürgerInnen, dass ihre Schwierigkeiten weniger auf ihre individuellen Behinderungen zurückzuführen und keine Sache der Wohlfahrt sind, sondern hauptsächlich das Resultat der vielfältigen gesellschaftlichen Diskriminierungen darstellen. Sie konnten und wollten dies nicht länger akzeptieren. Die Erkenntnis, war gleichzeitig ein Initialzünder für eine sich im Laufe der folgenden Jahre langsam aber stetig ausweitende Behindertenbewegung. Sie bewirkte eine Vielzahl von Aktivitäten und Proteste behinderter Menschen in den USA, die die Gesetzgebung erheblich beeinflussten. Ähnlich wie in den USA bildeten sich auch in Europa Ende der 1960er Jahre und in den 1970er Jahren Initiativen von behinderten und nichtbehinderten Menschen, die sich von den traditionellen Eltern- und „Expertenorganisationen“ ablösten und nicht länger Objekte von Bevormundung, Betreuung und Wohltätigkeit sein wollten. Sie wehrten sich offen dagegen „dankbar, lieb, ein bisschen doof und leicht zu verwalten“ zu sein. Der Funke der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung erreichte (Ober-)Österreich Ende der 1970er.

Ein besonderes Anliegen der SLI OÖ ist das Empowerment. Es kann kurz als Ermächtigung, Kraft oder Stärke bezeichnet werden. Als Empowerment bezeichnet man aber auch Maßnahmen, die geeignet sind, das Maß an Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Autonomie im Leben von Menschen mit Behinderung zu erhöhen. Empowerment ist ein sehr individueller Prozess der Bewusstseinserweiterung, in dem eine Person die eigene Stärke und Freiheit erkennt und lernt, bewusst im eigenen Sinne zu handeln.

Die SLI OÖ unterstützt hier in Form der Peer-Beratung, das ist eine aktivierende Beratung von Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung. Ausgehend von einer systemischen Sichtweise glauben ausgebildete Peer-BeraterInnen fest daran, dass jede Person eine Lösung für sein/ihr Anliegen oder Problem bereits in sich trägt, die Ratschläge im eigentlichen Sinn überflüssig machen. Wer sich von der Methode und der Wirkungsweise überzeugen will, kann dies im Empowerment-Center von SLI OÖ tun (Tel. 0732/890046).

Alle Jahre wieder Mitleidsmasche

Auch wenn sich in den Jahrzehnten für Menschen mit Behinderung das eine oder andere zum Besseren verändert hat, gibt es keinen Grund zum Jubeln. Alle Jahre wieder wird durch fragwürdige Aktionen wie Licht ins Dunkel die Mitleidsmasche bedient und werden Menschen mit Behinderungen zu AlmosenempfängerInnen und Objekten gemacht. Wir leben in einer Gesellschaft, in der das defizitorientierte Denken noch immer vorherrscht, anstatt in jedem Menschen seine/ihre individuelle Fähigkeiten und Stärken zu erkennen. Behinderung haftet immer noch der Mythos von Krankheit an. Propagiert wird ein Weltbild, in dem nur der Starke etwas wert ist.

Äußerlichkeiten sind wichtig. „In“ ist heutzutage, wer eine gute Figur hat, das richtige Auto fährt, einen gut dotierten Job hat und immer gut drauf ist. Diesen Idealen können Menschen mit Behinderung oft nicht entsprechen. Haben sie überhaupt die Möglichkeit einen Beruf auszuüben, sind sie gefordert, sich mehr als ihre KollegInnen ins Zeug zu legen, um ja keine Schwäche zu zeigen. Kein Wunder, wurde doch jahrhundertelang ein Bild über Menschen mit Behinderung entworfen, das sie an den Rand der Gesellschaft drängte. Menschen mit Behinderung waren Narren bei Hofe, wurden als Freaks in Shows der öffentlichen Sensationsgier vorgeworfen, wurden dämonisiert, indem man ihnen rätselhafte Fähigkeiten unterstellte, die rechtfertigten, dass diese Menschen ausgesondert werden durften. Den Preis für dieses Vorgehen müssen Menschen mit Behinderungen heute immer noch zahlen.

Die Institutionalisierung von Menschen mit Behinderung ist nach wie vor gang und gäbe. Sei es beispielsweise, weil Unterstützungsleistungen wie Persönliche Assistenz nicht bedarfsgerecht zur Verfügung gestellt werden, oder Menschen mit Behinderung ein Leben außerhalb von Einrichtungen nicht zugetraut wird, oder ihnen schlichtweg finanzielle Mittel zur Existenzsicherung vorenthalten werden, um unabhängig von ihren Eltern wohnen zu können. Oder soll nichtbehinderten Menschen vielleicht auch nur der Anblick von Menschen mit Behinderungen erspart bleiben?


Jeder Mensch hat in etwa die selben Bedürfnisse

Das sind nur wenige Beispiele, die der SLI OÖ sauer aufstoßen. Sie will Berührungsängste aufbrechen, mit Vorurteile aufräumen und rechtliche Grundlagen forcieren, die ein selbstbestimmtes Leben – wie es nichtbehinderte Menschen jeden Tag ganz selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen – auch für Menschen mit Behinderungen ermöglichen. Jeder Mensch hat in etwa dieselben Bedürfnisse. Das Bedürfnis nach Zughörigkeit, der Möglichkeit nach Bildung, eine Arbeit zu finden, kulturelle oder andere Veranstaltungen besuchen zu können, dem Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit. Selbstverständliche Anliegen sollte man meinen. Immer noch existiert viel Unwissen im Zusammenhang mit Behinderung.

Wussten Sie zum Beispiel,

  • dass nicht nur Menschen mit Behinderung von Barrierefreiheit profitieren, sondern alle Menschen?
  • dass 19,53 % der Arbeitslosen in OÖ Menschen mit Behinderung sind?
  • dass im geförderten Wohnbau ein Aufzug erst ab dem 3. Obergeschoss vorgeschrieben ist?
  • dass es in Linz kein einziges barrierefreies Taxi gibt?

Solange BenutzerInnen eines Rollstuhles nicht in der Lage sind, mit öffentlichen Verkehrsmitteln vom Mühlviertel nach Linz zu gelangen oder es für blinde Menschen unmöglich ist, sich in Gebäuden orientieren zu können, solange gehörlosen Menschen kein/keine GebärdendolmetscherIn zur Verfügung gestellt wird und schwerhörige Menschen ganz selbstverständlich überall in Gebäuden eine Induktionsanlage vorfinden, solange sogenannte Menschen mit Lernschwierigkeiten Informationen nicht in einfacher Sprache lesen können, solange bleibt Inklusion nur Illusion.
Die SLI OÖ wünscht sich eine Gesellschaft, welche die Vielfalt an Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten als Ressource erkennt und auch das Leben mit einer Behinderung als Quelle möglicher Bereicherung wertschätzt.


Kontakt: Verein Selbstbestimmt-Leben-Initiative OÖ
Bethlehemstraße 3/2.Stock, 4020 Linz,
Tel.: 0732-89 00 46-10 // www.sli-ooe.at

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Sabine Pfeiffer hält seit Anfang dieses Jahres das Ruder der SLI OÖ in der Hand. Sie spielt zum Ausgleich zu dieser herausfordernden Tätigkeit leidenschaftlich Theater oder tobt sich anderweitig kreativ aus.

 Klaudia Karoliny ist ein Urgestein der SLI in OÖ und bezeichnet sich selbst als Rechtsfanatikerin. Ein langer Atem und Hartnäckigkeit zeichnet sie aus. Zu Recht ist sie 2-fache Preisträgerin für Zivilcourage.

Zuletzt geändert am 17.10.13, 00:00 Uhr

Verfasst von Silke Müller

Ein Duett aus Radiofeature-Produktion und Illustrationsausstellung hat mein Kommunikationsdesign und Medienstudium abgeschlossen. Seit dem beschäftige ich mich mit der großen, künstlerischen Radioform "Feature", mit Reportagen und Interviews mit KünstlerInnen und Kulturschaffenden.

Ich bin freischaftende Illustratorin für Plakate - zum Beispiel für Radio FRO - Zeitungen, Magazine, Bücher und Ausstellungen. Radiohören geht beim Zeichnen wunderbar.

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