Liebe Grüße von Frau Leisch

von Tina Leisch ///
Sehr geehrte Damen, Herren und Transgender, sind Sie gerade online?
Oder lesen Sie das hier noch auf Papier?

Verpassen Sie auf den rauschendsten Parties leider die interessanten Gespräche, weil Sie fast nur noch Augen haben für Ihr Smartphone um allen „Freunden“ mitzuteilen, wo Sie gerade sind und wie leiwand es dort ist? Gibt es überhaupt noch Dinge, die Sie vor Facebook verheimlichen? Wissen Sie, was Google von Ihnen weiß? Nicht, was die Suchmaschine an Ergebnissen ausspuckt, sondern was im Profil Ihrer Google- und Youtube-Besuche im Hintergrund aufgezeichnet wird? Benimmt Ihr Computer sich neuerdings wie Oswald Wieners Bioadapter und sagt Ihnen genau das, was Sie immer schon hören wollten?

 

Wie viele Ihrer sozialen Kontakte haben Sie schon digitalisiert?

Finden Sie, unterm Strich, die erotische Begegnung online vergnüglicher als die auf dem Strich?
In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das WWW als gelobtes Land der demokratischen Kommunikationen gefeiert. Endlich können weltweit alle Menschen, die Zugang zum Internet haben (also noch längst nicht alle), miteinander kommunizieren. Der hierarchischen Struktur der meisten analogen Medien, bei denen Chefredakteure, Anzeigenkunden, Blattinhaber oder Anrufe aus  Parteizentralen entscheiden, was gedruckt oder gesendet wird, setzt die Netzcommunity horizontale Informationsweitergabe entgegen, von „peer to peer“. Weltweiter, freier Zugang zu Wissen, Information, Kunst und  Kultur erschien vielen als der digitale Vorhimmel einer kommenden, gerechteren Welt.

Doch Macht- und Verteilungskämpfe, kapitalistisches Profitstreben und politische Kontrollversuche finden im Netz genauso statt wie in der analogen Welt. Wenn nicht in mancher Hinsicht schlimmer.
Gegen Facebooks Datensammlung waren die Staatssicherheitsarchive der DDR ein lächerlicher Datenspielplatz. Mit dem Unterschied, dass die Stasi-Mitarbeiter bespitzeln, belauschen, ausforschen und observieren mussten, während Sie als  Facebook-FreundIn freiwillig bekannt geben, mit wem Sie befreundet sind, was Sie politisch denken, wo Sie heute Abend hingehen und welche Filme Sie anschauen. Um mit jedem „like“ den Kurs der Facebook-Aktie anzufüttern. Und das Informationsportefeuille, das Ihr Personalchef dann über Sie einholen wird, bevor er Sie auf den sicherheitsrelevanten Posten befördert…

Inzwischen müssen selbst die euphorischsten der NetzprophetInnen einsehen: Es ist Zeit, das zu Unrecht vergessene und verstaubte Wort „Klassenkampf“ aus der Vitrine realsozialistischer Devotionalien zu holen und in die netzpolitischen Debatten zu werfen. Mit dem ACTA-Abkommen versuchte die Kulturindustrie, die Verwertungsmodelle der analogen Welt im Internet durchzusetzen. Wer etwas lesen, hören, sehen, wissen will, soll bezahlen! ACTA wurde inzwischen wegen zu heftiger Proteste zu den Akten gelegt.
Nun geht es darum, die Netzneutralität gesetzlich zu verankern. Nie davon gehört?

Noch können Sie (auf www.arpas.org.sv) genauso schnell herausfinden, was die Community-Radiostationen im fernen El Salvador spielen, wie das Programm von Radio FRO. Noch liefert Ihnen die Öko-Suchmaschine ecosia.org genauso schnell Ergebnisse wie Google. Das liegt daran, dass – noch – alle Daten im Internet gleich schnell befördert werden.
Bei Ihrem Provider werden von jedem Datenpaket nur die ersten Datenbits gelesen, die die Adresse angeben, wohin die Daten geschickt werden sollen. Technisch ist aber genauso „deep packet inspection“ möglich. D.h. wenn Ihre Datenpakete bei Chello oder A1 vorbeiflitzen, schauen die genauer, was drin ist. Urheberrechtlich geschützte Files? Musikdownloads? Subversive Manifeste? Mit der deep packet inspection wird es aber vor allem möglich, verschiedenen KundInnen unterschiedliche Transportgeschwindigkeiten zu verkaufen. Dann hätten Facebook-Alternativen wie Friendica oder Diaspora von vornherein nie eine Chance, je bis zu Ihnen vorzudringen. Afrika läge dann im Internet noch weiter weg als auf der Landkarte. Den großen Netzmultis unliebsame Initiativen würden ausgebremst, unsichtbar.
Und im Internet wäre es, wie auf der erdigen Welt: Das Land gehört denen, die am meisten dafür zahlen.

/// Hörversion


Tina Leisch, Film-,Text- und Theaterarbeiterin.

Zuletzt geändert am 20.06.12, 00:00 Uhr

Verfasst von Silke Müller

Ein Duett aus Radiofeature-Produktion und Illustrationsausstellung hat mein Kommunikationsdesign und Medienstudium abgeschlossen. Seit dem beschäftige ich mich mit der großen, künstlerischen Radioform "Feature", mit Reportagen und Interviews mit KünstlerInnen und Kulturschaffenden.

Ich bin freischaftende Illustratorin für Plakate - zum Beispiel für Radio FRO - Zeitungen, Magazine, Bücher und Ausstellungen. Radiohören geht beim Zeichnen wunderbar.

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