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Es ist zumutbar, die anderen mitzudenken!

Andi Wahl spricht mit Gunther Trübswasser ///
Gunther Trübswasser engagiert sich seit Jahrzehnten für Barrierefreiheit und gegen jede Form von Diskriminierung. Als Abgeordneter und Klubobmann der Grünen im Oberösterreichischen Landtag (bis 2009) war er unter anderem auch Kultursprecher seiner Partei.
Landeshauptmann und Kulturreferent Josef Pühringer war damals immer nur schwer dazu zu bewegen, gemeinsam mit Trübswasser an einer Diskussion teilzunehmen. „Mit Trübswasser wird es immer so philosophisch,“ begründete Pühringer seinen damaligen Unwillen. Andi Wahl ließ sich von etwaigen philosophischen Untiefen nicht entmutigen und lud Gunther zu einem ausführlichen Interview über Menschenrechte, schiefe Ebenen, Gruppenegoismen und Bildungspolitik.

Andi: Viele Institutionen, Vereine und Projekte in Linz bemühen sich um Barrierefreiheit. Doch der Anspruch, barrierefrei sein zu wollen, scheint immer uneinlösbarer, je länger man sich damit beschäftigt. Immer wieder muss man erkennen, dass es noch weitere große Gruppen gibt, die man ausschließt. Gehörlose, Lernschwache, RollstuhlfahrerInnen, MigrantInnen usw. Langsam macht sich Frustration bereit, ständig einem Ziel nachzulaufen, das man ohnehin nicht erreichen kann.

Gunther:
Aus meiner Sicht halten sich die realen Anstrengungen in durchaus überschaubaren Grenzen. Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Linzer Verein für Kunst, mit viel Mut für Experimente, engagiert sich für Gleichstellung und gegen Diskriminierung mit vielen klugen, interessanten Projekten. Bis heute aber gibt es jedoch (trotz eines Umzugs) eine Stufe im Eingangsbereich und keine entsprechende Toilette. Das ist für mich beinahe symptomatisch für eine Haltung, die leider weit verbreitet ist: JedeR definiert das Menschenrecht auf Teilhabe aus ihrer/seiner speziellen (Ziel-) Gruppe heraus. Frauenorganisationen sehen die Diskriminierung im Geschlechterverhältnis, Gehbehinderte schauen immer nur auf die Stufen, Sehbehinderte beklagen ihren schlechten Zugang zum Internet oder die mangelnden Leiteinrichtungen im öffentlichen Raum. Lernschwache, MigrantInnen, Gehörlose, usw. – es gibt unzählige Gruppen, die (noch) nicht gleichberechtigt an der Gesellschaft teilnehmen können. Und alle fordern natürlich ihre Teilhabe ein, aber eben oft nur ihre eigene. Das mag im ersten Moment unüberschaubar erscheinen. Allerdings gibt es die große Klammer der Menschenrechte.

Sie sind wohl eine der großen Errungenschaften der letzten 60 Jahre! Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat man gesehen, wohin Ausgrenzung und Diffamierung führen. Der erste Artikel in der Deklaration der Menschenrechte von 1948 besagt, dass jeder Mensch frei und gleich an Rechten und Würde geboren sei. Wenn man diesen Grundsatz beherzigt, erscheinen die diversen berechtigten Ansprüche und Fragestellungen viel klarer. Alle Menschen sind gleich wertvoll und wichtig, haben das selbe Recht auf Ausbildung, medizinische Versorgung, Zugang und Teilhabe am öffentlichen Leben, usw. Wenn man das versteht, bedarf es nur noch der Übersetzungsleistung, was dies für ältere Menschen, MigrantInnen, Lernschwache, Homosexuelle, Hörbehinderte, Kinder, etc. im Konkreten bedeutet und welche Rahmenbedingungen sie brauchen, um zu ihrem Recht auf gleichberechtigte Teilhabe zu kommen.

Jetzt endlich erkennen viele, dass man sich nicht nur um die Diskriminierung(en), die man selbst erfährt, kümmern kann, sondern dass man all die anderen auch mitdenken muss. Nach der Aufklärung und der technischen Revolution braucht es nun eine Revolution der Menschenrechte und der Menschenwürde, sonst wird es sehr eng auf diesem Planeten.

Andi: Siehst du eine solche Revolution heraufdämmern?

Gunther: Zumindest gibt es eine Fülle an Dokumenten, die die Grundsätze der Menschenrechte für einzelne Gruppen detaillierter festlegen. Eine Kinderrechtskonvention, die Deklaration über die Gleichstellung der Geschlechter, seit 2008 – auch für Österreich –  verbindlich, die Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen. Das alles sind Beispiele, wie die Menschenrechte differenziert ausgelegt werden. Auf dem Feld der Bewusstseinsbildung geht es darum, dass die einzelnen Gruppen ihre Rechte nicht nur für sich in Anspruch nehmen, sondern auch die Rechte der anderen akzeptieren.

Für mich war eine Demonstration in Wien für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein Schlüsselerlebnis. Dort wurden Stimmen laut wie: „Für die Ausländer gibt es Geld und für uns nicht.“ Besser kann die jahrtausendealte Taktik der Herrschenden,
die Unterdrückten gegeneinander auszuspielen, gar nicht funktionieren. Wollen wir weiterkommen, muss dieser Gruppenegoismus fallen. Ich gebe zu, es ist ein langer und mühevoller Bewusstseinsprozess. Ein umfassenderes Denken hat sich selbst in sonst sehr bewussten und fortschrittlichen Kreisen noch immer nicht etabliert. Wir müssen lernen, dass Veranstaltungen, deren Thema Ausgrenzungen sind, nicht in einer ausgrenzenden Form abgehalten werden. Ich habe in meiner politischen Tätigkeit immer darauf gedrängt, Barrierefreiheit nicht nur im Sozialausschuss, sondern auch im Verkehrsausschuss, im Kulturausschuss, usw. – also in allen Lebensbereichen – mitzudenken.

Oder auch Barrierefreiheit bei der Informationsweitergabe. Wenn ich etwa Information im Internet nicht so zur Verfügung stelle, dass sie auch für Blinde (über die Braillezeile) lesbar sind, oder nur in einer Sprache, dann ist das Recht auf Zugang zu Information nicht erfüllt!


Andi:
Aber sind das nicht Luxusforderungen, die die Ressourcenknappheit bei vielen Organisationen einfach ausblenden?

Gunther: Mir ist schon klar, dass, wenn man aufs Geld schauen muss, vieles nicht von heute auf morgen umsetzbar ist. Ich will auch nicht ständig mit Versäumnissen argumentieren. Aber das Mitdenken der Bedürfnisse anderer ist zumutbar.

Dass es möglich ist, zeigen immer wieder bauliche Beispiele wie die KAPU oder die Stadtwerkstatt, keineswegs „begütete“ Vereine. Und sie verdeutlichen auch, was „Zugang für alle“ wirklich bedeutet. Vieles muss natürlich im Grundsätzlichen, z.B. im Zuge der Bauordnung verbessert werden. Wenn es eine Bauordnung gibt, die auf Barrierefreiheit umfassend achtet, dann wird es mittelfristig ausreichend barrierefreie Bausubstanz geben, auch für Vereine mit weniger Geld. Zurzeit erleben wir allerdings in Oberösterreich politische Kräfte, die in eine andere Richtung ziehen und einen „Rückbau“ von Barrierefreiheit in der Bauordnung wünschen. Dem muss wohl seitens der Zivilgesellschaft entschieden entgegengetreten werden, was derzeit auch über die Plattform www.barrierefreies-ooe.at geschieht.

Ein positives Beispiel für eine grundsätzliche Herangehensweise ist der gerade im Entstehen begriffene Kulturentwicklungsplan NEU der Stadt Linz. Dort wurde sehr umfassend, das heißt: mehr als nur „ohne Stufen“, der Anspruch „Kunst und Kultur barrierefrei nutzen“ erhoben und festgeschrieben. Es besteht die Hoffnung, dass der „KEP neu“ auch so vom Linzer Gemeinderat beschlossen und letztendlich auch umgesetzt wird.


Andi:
Dazu bedarf es aber auch großer Anstrengungen jener, die diskriminiert werden.

Gunther: Natürlich gibt es auch die Verantwortung der Betroffenen. Empowerment und Selbstbefähigung sind gesellschaftliche Aufgaben, müssen aber auch in Anspruch genommen werden. Rechte, die nicht beansprucht, nicht eingeklagt werden, entfalten keine Wirkung.

Zu bedenken ist aber immer, dass Diskriminierungen eine fatale Wirkung entfalten können. Sie können bei den Opfern eine Form von Scham erzeugen. Es wird als beschämend empfunden, wenn ein äußeres Merkmal, auf das sich die Diskriminierung bezieht, offenkundig wird. Oft ziehen sich Opfer zurück und gehen diskriminierenden Situationen aus dem Weg.
JedeR sollte die Kraft besitzen, auch die eigenen Rechte durchzusetzen. Es wird sich an Diskriminierungen wenig ändern, solange sie in Kauf genommen und verdrängt werden. Daher sind Organisationen für Frauenrechte, Selbstbestimmt Leben-Initiativen oder HOSI (Homosexuelle Initiative Linz) so wichtig.
Sie machen bewusst, dass sie ein gleichwertiger Teil der Gesellschaft mit Rechtsansprüchen sind. Die Opferrolle zu „spielen“ ist manchmal auch eine Form der Bequemlichkeit. Opfer zu sein ist kein Beruf. Das ist die andere Seite: Es ist auch zumutbar, sich zusammenzuschließen und sich zu wehren!

Freilich gibt es Grenzen des Möglichen, nicht alles ist machbar,
aber wir könnten viel mehr erreichen und durchsetzen, als wir es derzeit tun. Empowerment und Mut ist das eine und Anstrengungen um mehr Barrierefreiheit das andere. Beide zusammen machen unsere Gesellschaft sicherlich menschlicher, demokratischer, vielfältiger, kreativer und friedlicher. Davon profitieren alle.

Andi: Du warst lange genug in der Politik, um zu wissen wie diese funktioniert. Das gestaltet sich mitunter alles sehr zäh. Oft wird das Bild vom Bohren harter Bretter gebraucht. Was sind deiner Ansicht nach die nächsten Schritte?

Gunther:
Es ist nicht nur das Bohren harter Bretter, sondern die Arbeit auf einer schiefen Ebene. Nicht nur das Durchsetzen von Maßnahmen gegen Diskriminierungen ist mühsam, auch nach dem Erreichen gilt: sobald man nachlässt, fällt die Gesellschaft oft wieder in spaltende Tendenzen zurück. Der Rückbau des Baurechtes in Oberösterreich wäre so ein Beispiel, das habe ich ja schon erwähnt. Hier ist nach Jahren des Fortschritts und der Verbesserungen in puncto Barrierefreiheit etwa vorgesehen, dass öffentliche Räume, die für nicht mehr als 50 Personen ausgelegt sind, künftig nicht barrierefrei sein müssen. In meinen Augen ist das nichts anderes als ein Rückfall in eine Art von Apartheid.

Andi: Ich habe dich nach den nächsten Zielen gefragt und du hast mir quasi geantwortet, dass es schwer genug, ist den Status quo zu halten. Gibt es dennoch Ziele?

Gunther: Ja, es gibt auch ganz klare Ziele! Bekanntlich werden RassistInnen ja nicht geboren, sondern erzogen. Grundsätzlich haben Kinder und Jugendlichen ein hohes Gerechtigkeitsgefühl und eine hohe Fähigkeit, mit unterschiedlichen Menschen zusammenzuleben. Kinder haben eine Normalität des Umgangs, wie wir sie uns für viele Erwachsene wünschen würden. Daher brauchen wir eine Schule für alle. Keine Sonderschulen und mindestens bis zum 14. Lebensjahr gemeinsame Klassen, wo die Guten und die Schlechten, die Blonden und die mit den schwarzen Haaren, wo alle gemeinsam lernen können und Vielfalt praktisch erfahren. Eben ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. So lernt man ganz selbstverständlich, dass es Menschen gibt, die schielen, und Menschen, die im Rollstuhl sitzen. Menschen, die unheimlich sportlich sind, und Menschen, die gerne sitzen und lesen.

Andi: Durch den medizinischen Fortschritt ist es mittlerweile möglich geworden, gewisse Behinderungen bereits im Mutterleib zu erkennen. Die Folge ist, dass viele Kinder, bei denen der Verdacht auf Behinderung besteht, nicht zur Welt kommen. 92% der Föten, bei denen Downsyndrom diagnostiziert wird, werden abgetrieben. Unter dem Aspekt der Barrierefreiheit betrachtet, wurde hier eine monströse Barriere aufgebaut, eine Barriere, die zwischen Leben und Tod entscheidet.

Gunther: Eine Frage, die nicht leicht und auch nicht mit einem Ja oder Nein beantwortet werden kann. Natürlich wirft der medizinische Fortschritt auch ethische Fragen auf. Unser Gewissen, unser Rechtsempfinden und unsere ethische Kompetenz halten mit dem technischen Fortschritt nicht mit. Die technischen Möglichkeiten übersteigen unsere Urteilsfähigkeit. Man muss hier auch sagen, dass im Falle einer zu erwartenden schweren Behinderung der Schwangerschaftsabbruch bis zum letzten Tag vor der Geburt möglich ist – während es ansonsten eine Fristenlösung gibt. Ich kenne auch Kinder, die fröhlich, gesund und gescheit sind, bei denen aber auf Grund von Fehldiagnosen eine Abtreibung im Raum stand.

Das Grundproblem ist meiner Ansicht nach der Umstand, dass Kinder mit Behinderungen oftmals grundsätzlich als Schadensfall gesehen werden, der die Gesellschaft belastet. Eltern, die ein Kind mit Behinderung zur Welt bringen, erleben dieses Ereignis oftmals so, als ob sie die ersten Menschen auf der Welt wären, die ein behindertes Kind bekommen. Es gibt nicht den gesellschaftlichen Rückhalt, der den Eltern vermittelt, dass es hier breites Wissen gibt, was man in dieser Situation tun kann. Das isoliert die Eltern, belastet die Partnerschaft usw.

Es geht also nicht nur um die Kinder mit Behinderung, es geht auch um deren Eltern. Ich kenne keine Mutter, keinen Vater, die ein Kind mit Downsyndrom hat und sagen würde, es wäre klüger gewesen, das Kind abzutreiben. Wir brauchen gesellschaftliche Rahmenbedingungen die das Leben mit einem behinderten Kind unterstützen. Stattdessen haben wir derzeit einen enormen Druck auf Frauen, die möglicherweise ein Kind mit Behinderung zur Welt bringen werden. Eine Frau hat mir erzählt, dass ihr Frauenarzt sie gefragt hat, ob sie sich schon überlegt hätte, was ihr behindertes Kind der Gesellschaft kosten würde. Ich bin weit davon entfernt, einer Frau, die in dieser Situation ihr Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch bis zum letzten Tag in Anspruch nimmt, einen Vorwurf zu machen. Das ist ein Gewissenskonflikt, der sehr, sehr belastend ist. Ich würde in der derzeitigen Situation keine Kampagne in die eine oder andere Richtung unterstützen. Also weder Bemühungen, dass sich an dieser Möglichkeit zum Abbruch der Schwangerschaft generell etwas ändern muss, noch, dass Frauen Kinder mit einem hohen Risiko auf Behinderung zur Welt bringen müssen. Was wir brauchen, ist eine gesellschaftliche Akzeptanz von Kindern mit Behinderung oder ganz allgemein, dass Altwerden und Behindert-Sein ein Teil des Lebens sind, wie Geburt und Tod.

 

/// Hörversion

 

/// Foto: cc Andreas Kepplinger


Gunther Trübswasser (*1944, Brno) war bis 2009 Landtagsabgeordneter der Grünen in OÖ, ist seit April dieses Jahres als Menschenrechtsexperte Mitglied des beim Sozialministerium angesiedelten Monitoringausschusses zur Umsetzung der „UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen“, der Österreich 2008 beigetreten ist. Als Vorstandsvorsitzender von SOS-Menschenrechte setzt er sich für die menschenwürdige Behandlung von AsylwerberInnen und die Rechte von MigrantInnen ein.

Zuletzt geändert am 20.06.12, 00:00 Uhr

Verfasst von Silke Müller

Ein Duett aus Radiofeature-Produktion und Illustrationsausstellung hat mein Kommunikationsdesign und Medienstudium abgeschlossen. Seit dem beschäftige ich mich mit der großen, künstlerischen Radioform "Feature", mit Reportagen und Interviews mit KünstlerInnen und Kulturschaffenden.

Ich bin freischaftende Illustratorin für Plakate - zum Beispiel für Radio FRO - Zeitungen, Magazine, Bücher und Ausstellungen. Radiohören geht beim Zeichnen wunderbar.

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