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Nimmt man denn das Vaterland an den Schuhsohlen mit?

Mit diesen Worten reagierte 1794 Georges Danton (frz. Revolutionär 1759 – 1794) auf den Rat eines Freundes, Frankreich zu verlassen und außerhalb des Landes Schutz vor der Schreckensherrschaft Robespierres und damit vor seiner bevorstehenden Hinrichtung zu suchen.

Die politischen Umstände zu dieser Zeit sowie sein Engagement während der Revolution, der er seinen gesellschaftlichen Aufstieg verdankte, hielten ihn von einer Flucht ins ‚Ausland’ ab und bestärkten ihn in seinem Entschluss, in seinem so genannten „Vaterland“ zu sterben. Er selbst ist in Frankreich geboren, verbrachte den Großteil seines Lebens dort und gestaltete die Zukunft des Landes im Zuge der Revolution aktiv mit. Somit war er nie gezwungen, seine nationale Identität zu hinterfragen: Er war Franzose und seine Identifikation mit der „Grande Nation“ ging so weit, dass er dort sterben wollte.

Wir verlangen von unseren Mitmenschen unaufhörlich, sich mit einer einzigen „Nation“ zu identifizieren.

Heute, mehr als zwei Jahrhunderte später, ist „Migration“ bzw. das Verlassen des „Vaterlandes“ zum zentralen gesellschaftlichen Thema geworden. Zahlreiche Biographien des 20. und 21. Jahrhunderts weisen aufgrund wirtschaftlicher, politischer und/oder humanitärer Zwänge nicht mehr dieselbe Kontinuität von Dantons Lebensgeschichte auf. Somit wird es für MigrantInnen insbesondere der zweiten und dritten Generation zunehmend schwieriger, ihre nationale oder gar kulturelle Zugehörigkeit zu definieren. Als logische Folge dessen müsste auch die Kategorie des „Vaterlandes“ an Bedeutung verlieren. So einleuchtend (und vielleicht auch wünschenswert) dieser Befund erscheinen mag und so sehr er in aktuellen theoretischen Konzepten der Geistes- und Sozialwissenschaften seinen Niederschlag findet, entspricht er nicht den realen Erfahrungen bzw. Denkmustern vieler MigrantInnen und erst recht nicht jener wenigen (Glücklichen oder Unglücklichen?) ohne Migrationserfahrung.

Obwohl in wirtschaftlicher Hinsicht „globales“, „grenzüberschreitendes“ Denken gefordert wird, verlangen wir alle von unseren Mitmenschen unaufhörlich, sich selbst mit einer einzigen „Nation“ zu identifizieren. Dabei sind die Bilder von den typischen MigrantInnen, an deren Existenz die Medien maßgeblich beteiligt sind, in vielen Köpfen so dominant, dass jemandem, der nicht akzentfrei Deutsch spricht oder offensichtlich Muslim ist, nicht der Status einer ÖsterreicherIn bzw. eines Österreichers zugesprochen wird, auch wenn er oder sie sich als ÖsterreicherIn definiert, im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft ist und/oder in Österreich geboren ist. Muss man also die offiziellen Zeichen seines „Vaterlandes“, wie insbesondere die Sprache und bestimmte (auch religiöse) Traditionen bzw. Überzeugungen, am Fußabstreifer abputzen bevor man sich zu einer ‚neuen’ oder ‚weiteren’ „Nation“ zugehörig fühlen darf?

So individuell verschieden die Lebensläufe der Menschen im 21. Jahrhundert sind, so individuell verschieden werden die Antworten auf diese Frage sein. Genauso wie für die Identität eines jeden Einzelnen diverse Aspekte seines „So-Seins“ unterschiedlich gewichtet werden (Geschlecht, Nationalität, Religion, Sexualität, etc.), genauso werden die Antworten je nach politischer Überzeugung, eigener Lebensgeschichte, persönlichen Erfahrungen, Gesprächskontext und wahrscheinlich auch der konsumierten Medien verschieden ausfallen. Gerade angesichts dieser Vielfalt an Eigen- und Fremdzuschreibungen überrascht es immer wieder, wie leichtfertig Begriffe wie „die Österreicher“ oder die „Franzosen“ im öffentlichen Diskurs verwendet werden, die uns unaufhörlich zu suggerieren versuchen, dass es sich dabei um feststehende, klar von einander abgegrenzte Gruppen handelt. Noch erschreckender ist es, dass wir diese Scheinhomogenität eines „Wir“ und der „Anderen“ schon dermaßen verinnerlicht haben, dass wir laufend versuchen unser Gegenüber zu kategorisieren und in die passende ‚nationale’ Schublade einzuordnen.

Umso wichtiger ist es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass insbesondere „nationale Identitäten“ von Menschen erzeugte Konstruktionen sind, die wiederum nur ein Teil der gesamten Identitätskonstruktion eines Individuums sind. Je nach Ort und Zeitpunkt, je nach Umfeld, je nach politischen Verhältnissen und der damit verbundenen politischen Interessen werden insbesondere „nationale Identitäten“ in unterschiedlicher Weise konstruiert, aktualisiert und unterschiedlich stark thematisiert. Insbesondere PolitikerInnen und Medien versuchen uns dabei laufend zu beeinflussen, in dem sie verschiedene Angebote und Bilder von dem, was Österreich ihrer Meinung nach ist und sein soll, verbreiten und so dazu beitragen, eine „Scheinhomogenität“ zu schaffen. Wir alle sind diesen Angeboten und Bildern ausgesetzt und bewusst oder unbewusst nehmen wir sie in uns auf. Doch je nach Umfeld, in dem wir uns bewegen und je nach familiärem Background gehen wir unterschiedlich damit um. Der eine pocht auf die kulturelle Homogenität Österreichs, die andere beruft sich auf die Vergangenheit des Landes als Vielvölkerstaat. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, die sich unterscheidenden nationalen Identitätsmuster zu erkennen, ernst zu nehmen und zu respektieren. Nur so werden ihr Konstruktionscharakter, ihre Heterogenität und ihre Wandelbarkeit begreiflich.

Und genau dieser Konstruktionscharakter
und seine Wandelbarkeit sind es, die uns hoffen lassen, indem sie uns Anknüpfungspunkte für Veränderungen aufzeigen. Warum dominieren im öffentlichen Diskurs immer nur jene eindimensionalen Konstruktionen, welche die Benützung des Fußabstreifers propagieren und von „ÖsterreicherInnen“ mit einem anderen „Vaterland“ verlangen, dieses abzuputzen? Warum greifen PolitikerInnen und Medien immer auf sie zurück? Ist es nicht an der Zeit, eine neue „österreichische“ (oder auch „deutsche“, „polnische“, etc.) Identität zu konstruieren, in deren Konstruktion es nicht nur erlaubt ist, das „Vaterland“ an den Schuhsohlen mitzunehmen, sondern die uns ermöglicht, ja geradezu dazu ermuntert, mit den Händen nach Teilen eines oder mehrerer neuer „Vaterländer“ zu greifen, sie festzuhalten und mitzunehmen?
Radio FRO leistet mit seinem Programm und seiner bereits zweiten Schwerpunktsetzung im Zuge der Ars Electronica einen wichtigen Beitrag dazu, dass dieser und alternativen Konstruktionsmöglichkeiten Gehör verschafft wird. Möge ihm ein besseres Schicksal beschieden sein als den Umsturzversuchen Dantons!

1    Amin Maalouf hat dieses Pochen auf die Nennung einer einzigen nationalen Identität in seinem Werk „Mörderische Identitäten” gleich auf den ersten Seiten (7-11) eindrücklich beschrieben.
2     Österreich dient hier nur wegen der geographischen Nähe und Vertrautheit als Beispiel. Interessante Fallbeispiele wären der Südosten Europas sowie aktuelle, durch Integrationsprobleme angestoßene Debatten zur „Leitkultur“ in Deutschland und Frankreich.

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Eva-Maria Hochhauser arbeitet für die Forschungsplattform Cultural Encounters and Transfers (CEnT) der Universität Innsbruck und absolviert dort gerade ihr Doktoratsstudium der Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten “Identitätspolitik und Integrationspolitik”.

Zuletzt geändert am 25.01.12, 00:00 Uhr

Verfasst von Silke Müller

Ein Duett aus Radiofeature-Produktion und Illustrationsausstellung hat mein Kommunikationsdesign und Medienstudium abgeschlossen. Seit dem beschäftige ich mich mit der großen, künstlerischen Radioform "Feature", mit Reportagen und Interviews mit KünstlerInnen und Kulturschaffenden.

Ich bin freischaftende Illustratorin für Plakate - zum Beispiel für Radio FRO - Zeitungen, Magazine, Bücher und Ausstellungen. Radiohören geht beim Zeichnen wunderbar.

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